Les périphériques vous parlent Nr. 4
WINTER 1995/1996
S. 20-24
deutsch
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Génération Chaos (Photos : agnès b.)Anne CalvelFlorent MaillotCécile RomaNaïm AmorSébastien BodieuYovan Gilles
Photos : agnès b


 
 

Theatralität/Politik :

Über eine gewisse Artenvermischung

Wenn das Theater keine Nachäffung der reellen Welt, kein Darstellungsspektakel mehr ist, dann kann es die Aneignung der Bühne des Lebens durch Akteure, wirkliche Menschen, zum Ausdruck bringen. Der Standpunkt eines Teilnehmers an der politischen und artistischen Praxis, die mit Les périphériques vous parlent und Génération Chaos begonnen wurde.
Insbesondere hat dieser Text die Arbeiten des von Marc'O und Cristina Bertelli gegründeten Laboratoriums für praktische Studien über den Wandel zur Quelle.


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DER PFERDEHUF


Ich möchte folgende Worte in den Mund eines Zuschauers legen, der im Kino folgende Meinung annähme : „Ein gelungener Film ist ein Film, der uns vergessen lässt, dass das Kino ist, eine gute Geschichte versucht, vergessen zu machen, dass sie ausgedacht ist”.

Eine aufdringliche Meinung über das Bild im Allgemeinen geht von der Idee aus, dass es ein einfaches Medium wäre, welches einen Inhalt trägt. Man könnte es in Bezug auf die reelle oder fiktive Wirklichkeit beurteilen, die es darstellen soll. Unter „Wirklichkeit” verstehe ich den einfachen Text, welcher dem filmischen Ausdruck vorangeht und den letzterer uns mehr oder weniger genau wiedergeben sollte. Die Anerkennungsformel „Man glaubt daran” soll im Übrigen die Bestimmung des Bildes bestätigen, Eindrücke hervorzurufen, die den Zuschauer den Unterschied zwischen „der reellen Wirklichkeit” und ihrer Abbildung vergessen lassen [ siehe Fußnote ].

Vor Kurzem bemerkte ich in Coppolas Film Coup de cœur nur ein Detail, das diese Meinung Lügen straft. Eine Szene des Filmes zeigt eine Kulisse, die einer Landschaft (hier das Gebirge von Arizona im Sommer unter einem sternenklaren Himmel) ähnelt, vor deren Hintergrund ein Liebespaar seine Leidenschaft auslebt. Die „Dekorationsanlage” wird als solche gezeigt, ohne dass es in Frage käme, die „wahre Landschaft” vorzutäuschen. Dieser Kunstgriff, das „Falsche ohne Widerspruch” - um einen Ausdruck von Guy Debord zu missbrauchen - weicht meiner Meinung nach vom „wahrscheinlichen” ab : vom Anschein zum Wahren, der Idee, die man sich von der wahren Wirklichkeit macht, von jener, welche man darstellen wird und der ihr Bild entsprechen sollte.

Die Idee von Vorstellung setzt nämlich für das Bewusstsein immer eine Wahrheit voraus, die das Bild ihm wiederspiegeln sollte und die sie ihm häufig vorkaut. Diese wahre Wirklichkeit zeigt dem Zuschauer etwas wie eine „Wirklichkeit ohne Realität”, die ihn am Ende des Films beim Verbrauch eines Trugbildes lässt : „Das war ja nur ein Film ! Eine kurze Illusion”, sagt man - die Teilnahme an der scheinbaren Macht des Bildes, die mich bald der Bitterkeit des Abstiegs von einem Trip ausgeliefert hat. Warum will man mich vergessen lassen, dass ich hier sitze und einen Film betrachte, welcher keine dem Raum der Fiktion angemessenen Dinge oder Persönlichkeiten zeigt, sondern die Zukunft eines Bildes und die Abenteuer eines Blickes, der ihm überlebt, ausbreitet ?

Denn woanders, im Té-Palast in Mantua, immer noch außerhalb des Themas, gibt es ein Fresko der Manieristischen Schule, das beim Touristen die Gewissheit, zu sehen, täuscht. Es zeigt eine Landschaft, in deren Vordergrund ein Pferd offensichtlich Aufmerksamkeit erregt : Das Tier setzt einen Huf außerhalb des gemalten Freskenrahmens. Die optische Täuschung entsteht dadurch, dass der Huf auf das Gebälk eines Palasttores tritt, über der das Fresko hängt ; daher kommt für den Besucher der Eindruck, dass der Pferdetrott ihn dazu einlädt, „aus dem Rahmen zu treten.”

Der Rahmen des Gemäldes wird dadurch als Vorstellungsrahmen bezeichnet, dessen optische Täuschung von der Begrenzung abschweift. Doch diese Abschweifung erhält die Funktion des Rahmens eher aufrecht, als sie sie zerstört. Durch diesen Optik- oder besser Oberflächeneffekt bringt sie eine gewisse Beweglichkeit des Blickes ins Spiel.

Dieses Einsetzen kann der lachenden Empfehlung des Malers entsprechen, der sich folgendermaßen an den Betrachter wendet : „Der Pferdehuf zeigt dir wie ein Scherz das, was außerhalb des Rahmens liegt.” Doch das, was außerhalb des Rahmens liegt, befindet sich nicht außerhalb des Bildes. „Außerhalb des Bildes ist dein Blick blind. „Wenn du dich demgegenüber versteifst, das, was das Bild zeigt, zu fixieren und wenn du glaubst, dass das, was es zeigt, alles Sichtbare enthält, dann vergisst du, was außerhalb des Rahmens liegt, und du hast vom Bild nichts gesehen.”

Das, was außerhalb des Rahmens liegt, muss somit wohl eine vor deinem Blick verborgene Dimension des Gemäldes sein. Dein Blick hängt am Fixpunkt des Sichtbaren, in der Preisgabe an die Gewissheit des Subjekts.

Doch wenn es kein Teil des Gemäldes ist, ist es dann nicht eher eine Art und Weise, zu sehen ? Und vermittelt da das Bild dem Betrachter nicht das Aufkommen eines Blickes auf den Blick ?

Der Akteur spielt wirklich nur, wenn er sich ins Spiel bringt ; wenn er zum Einsatz des Spieles wird, durch das er sich die Chance der Zukunft beschaffen will. Er spielt, um zu kennen, seine Meisterschaft geht ihm nicht voran, aber sie versucht ihn irgendwo am Ende seiner Akte.

Die Tatsache, dass die Dinge nicht sichtbar sind, sondern dass sie es werden - Klee sagt „sichtbar machen” - erfordert vom Blick, dass er lernt, zu sehen. Doch nennen Sie dies vor Allem nicht Geschmackserziehung oder Urteilsbildung, es handelt sich eher um die Entdeckung eines Feldes der möglichen Wirklichkeit ; und auch eine Art und Weise, klarzustellen, dass das, was wir Wirklichkeit nennen, Produkt einer Beschreibungsmethode, eines gewissen Rahmens ist und in uns entweder einen Ausschluss- und Fixationsraum, oder einen Blick auf die Abschweifung und das, was außerhalb des Blickfeldes liegt, bilden kann.

Daher ist mir dieses Gemälde gewissermaßen wie eine „Operation, um den Blickwinkel zu ändern” erschienen. Und genau dieser operationelle Aspekt des Bildes, d.h. diese Aktivität, welche das Werk als Entstehen des Blickes und nicht mehr als der Anschauung „gegebenen” Gegenstand vorschlägt, fängt den Blick ein. Das genaue Gegenteil der Verblendung, wenn der Gegenstand die in mir durch die Kriterien und die Ästhetikkategorie, mit der man es in Beziehung setzen kann, geformte Meinung widerspiegeln sollte. Von einer Bühne zur anderen, „handelt, es sich nicht darum, durch die Theatralität einem Publikum eine „Darstellungswahrheit” oder die Darstellung einer Wahrheit, sondern die Wahrheit der Menschen, die im Rahmen der Wirklichkeit auf der Bühne handeln, vorzustellen”. So hatte ich auf lapidare Art meine schauspielerische Tätigkeit definiert. Diese Theatralität hat ihre Beweise angetreten und bereits ihre Gründe angegeben [ siehe Fußnote ]. Dieser „Operationsschauplatz”, von dem Marc'O spricht, ein „wirksames Theater”, umgrenzt einen „Aktivitätsraum”, wo man „als Akteur” handelt, und keine Darstellungsbühne, wo man eine Rolle interpretiert.

Ich möchte hier Bedeutung und Konsequenzen dieser Behauptungen mit einer Abschweifung erklären.


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INFORMATIONSPRAXIS


Ausgegrenzt, verstoßen, versklavt
 
 

Ein Humanitärer zu einem Studenten :
„Worüber beklagen Sie sich denn, während überall auf der Welt Millionen von Kindern verhungern und nichts mehr besitzen ?”

Ein Humanitärer zu einem besitzlosen Kind der Dritten Welt :
„Du beklagst dich über deinen Hunger, während Millionen von Kindern bereits verhungert sind.”

Ein Humanitärer zu einem toten Kind :
„Zumindest ruhst du in Frieden. Denk ein wenig an die Millionen von Lebenden, welche weiterhin die schlimmsten Leiden ertragen müssen.”

 

Mit den Mitgliedern der Périphériques vous parlent und Génération Chaos begeben wir uns seit über einem Jahr ähnlich wie eine Kommandooperation (15-20 Personen) mit Kleinszenen in Universitäten, auf die Straße und auf öffentliche Plätze und Versammlungen. Es handelt sich hier um Stellung- und Wortnahmen, welche in ihrer Folge improvisierte Debatten mit den Leuten hervorrufen ; manchmal reiben wir uns an der Ordnungsgewalt, worunter Sie Reibungen mit der Gewalt der Redeordnung, die dem guten Gebrauch des Wortes Respekt verschaffen wollen, verstehen können. Die jüngste der Kleinszenen gibt die Zahlen der Armut in Großbritannien an - Ein Kind von Dreien ist arm in Großbritannien. Es hat sich hier darum gehandelt, eine Statistik und anschließend eine Ausführung über das Ausmaß der Schädigungen, deren Höhe sie auf der Sozialebene bezifferte, zu „theatralisieren”. Wir hatten hier nicht die Absicht, den gegenüber diesem Phänomen zahlreichen Analysen einen Kommentar hinzuzufügen, sondern eine Information zu verkörpern, deren Bedeutung und Tragweite dem Bürger vorenthalten werden. Unsere Zielsetzung hat im Übrigen nie etwas der Zweideutigkeit im Bereich „des Politischen” geopfert. Wenn diese Aktionen ein Bewusstwerden in der Bevölkerung erlauben, so muss ihnen nicht weniger die Schaffung einer Widerstandskraft folgen, welcher wir eine virulente Ansteckungskraft wünschen.

Diese „Ansprache in Akten”, um dies einmal so zu nennen, endet mit dem Satz von Serge DANEY : „Die Information ist nicht gegeben, sie ist eine Praxis”. Wir fügen hinzu : „Eine Praxis, welche von einem so wenig objektiven Geist wie möglich unterstützt wird. Dies hat hier nichts mit dem neutralen Ton gemein, wie man ihn sonst zur Schonung des Betrachters anschlägt.

Denn die Fehlinformation kommt nicht so sehr aus dem Verschweigen oder der Verfälschung der Tatsachen, aber sehr wohl aus dem zwangsläufig lückenhaften Verständnis der Folgen jeder Botschaft. Und wenn die Tendenz immer noch dahin geht, die Gewalt der Zeichen mit jener der Tatsachen zu verwechseln, dann weil in den Medien die Gewalt der Tatsachen ständig überdeckt wird. Dies liegt an der Art und Weise, die Sprache „auf Sparstellung” funktionieren zu lassen. Wenn die Worte, welche uns die Wirklichkeit zu verstehen geben sollen, die Grausamkeit, welche in ihnen schläft, bis zum Geiz zurückhalten, dann hat am Ende die Wirklichkeit selbst für uns ihren Namen verloren. Informieren bedeutet, die Reserven der Sprache durch das Lebendige, den Körper, mobil zu machen. Diese Mobilisierung muss zu einer Einstellung führen, welche der tödlichen Gedankenlosigkeit der Existenz fern liegt.

Génération Chaos (Photos : agnès b.) Anne CalvelCécile RomaNaïm AmorSébastien BondieuYovan GillesFederica BertelliJérémie PiolatNaïm AmorFederica BertelliChristopher YggdreCécile Roma
Photos : agnès b.

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HABEN SIE MEINE PERSÖNLICHKEIT GESEHEN ? CASTING, CASTING ÜBER ALLES


Der Ausdruck „neues politisches Theater” [ siehe Fußnote ] wurde in verschiedenen Artikeln angewandt, um unsere Interventionen zu definieren. Er ist gerechtfertigt, allerdings unter der Bedingung, dass er sich nicht als Grenze der Erkenntnis aufdrängt, d.h., dass er nicht als Kategorie auftritt, die den artistischen Akt aufspießt, um ihm ein Ende zu bereiten. Auf jeden Fall unter der Bedingung, dass „politisches Theater” etwas Anderes bedeutet als einen „Kampfakt”, der einen attraktiven Träger benutzt, um Botschaften politischer Art zu verbreiten, sei es im Bezug auf das engagierte Theater oder noch auf eine abgeleitete Form „von agit-prop”. Nichts ist hier fremder als die Idee von einem Theater, welches anscheinend politische oder soziale Ideen „ausdrückt”.

Wenn wir aber von „diesem Label” ausgehen, wollen wir daraus einige Gespenster vertreiben, welche die Epoche gern wiederaufleben lässt : Den Humanismus „des Künstlers” oder die Straßenkunst, wenn sie die Lumpen des Gauklers anzieht, welcher ständig bereit dazu ist, die Atmosphäre einer gnadenlosen Welt mit Hilfe irgendeiner Lustmacherei wieder aufzuheizen. Wir möchten sofort klarstellen, dass wir lieber Kälte verbreiten, statt eine laue Stimmung zu erhalten, die Atmosphäre anzuwärmen - oder auch, wie man heutzutage sagt, „zu animieren”. Besser zu aktivieren ! Die künstlerische Aktivität ist es sich schuldig, die Probleme des Lebens zu stellen, und auf keinen Fall, sich darum zu bemühen, sie uns mit Blödeleien, die gerade an der Mode sind, vergessen zu lassen.

Um zu versuchen, klar zu machen, was zum Politischen gehört, genüge es mir, an die Stellung der Intervenierenden von Les périphériques und von Génération Chaos zu erinnern. Jeder spielt in der Tat seine eigene Rolle. Dieses Wort „eigene” ruft nicht zu einer Art von Spontanität, Natürlichkeit oder „Subjektivität” auf, deren Ausdruck die Starre der sozialen Schicklichkeit tadeln könnte.

Genauer gesagt beruht die politische Geste des Akteurs auf seiner Fähigkeit, von einer Rolle unabhängig zu sein - von der Rolle, die aus dem Individuum ein Rädchen macht - welcher ihn Werte zuweisen, die am Ende ebenso seiner Sprache, wie seinem Leben die Grenzen gesetzt haben.

Es geht hier um den Tod einer gewissen Vorstellung, welche auf dem Begriff „Persönlichkeit” beruht. Da ich die Vorherrschaft einer durch Kriterien von Wahr-Scheinlichkeit wertgeschätzten Illusionskunst kenne - da es sich darum handelt, eine Fälschung herzustellen, muss man sie auch beglaubigen können - würde ich sagen, dass jeder der Darsteller mit den Anderen an „seiner Scheinlichkeit” arbeitet - das ist zumindest meine Meinung. Von diesem Standpunkt aus bis zur Identifizierung mit der Figur, welche die Verwandlung der Rollenspiele [ siehe Fußnote ] auf die Spitze treibt, zielt die Tätigkeit des Akteurs auf die Differenzierung in der Rolle, genauer darauf, das verfremdete Scheinbild, welches sie ersetzt, aufzugeben.

Die Idee von Vorstellung setzte voraus, dass die Darsteller auf der Bühne „für etwas Anderes gelten” und dass ihre Akte die Akte der Persönlichkeiten, welche sie interpretieren, beschreiben. Die Aktivität, eine Figur „darzustellen” oder eine Rolle zu spielen entsteht nicht aus nichts. Sie spürt die Zwänge, welche eine Casting-Gesellschaft den Individuen aufdrückt. Sie reiht den menschlichen Nutzwert gemäß der Produktionsbedürfnisse aneinander und in ihr wird das Individuum eine Rolle, die vor ihm existiert, einnehmen, im Theater ganz offensichtlich, aber ganz genauso in Arbeitswelt, Familie und Schule. Die Charakterisierung der Persönlichkeiten findet man in einem Katalog sozialer Rollen. Sagt man nicht vom kleinen Mann auf der Straße bis hin zum Star, dass man ihnen „ihren Beruf ansieht” ?

Wenn das Casting so auf der Spektakelebene die Nachahmung sozialer Rollen strukturiert, so spiegelt es die Welt der sozialen Vorstellung wider [ siehe Fußnote ]. Dass Komödianten anschließend mit einer vertrauensseligen Selbstverleugnung vorgeben, dem Autor, dem Willen des Regisseurs oder auch der ausgegrabenen Tiefgründigkeit des Textes zu dienen, ist sicher kein Zufall, wenn man an die Leidenschaft denkt, mit welcher die Diener Frankreichs sich dem Staat widmen und das der öffentlichen Glaubseligkeit als Redlichkeitsmerkmal vorsetzen.

Der poetische Akt ist die Pflicht zu Ergebnissen. „Poesie muss praktische Wahrheit zum Ziel haben”, sagt Lautréamont.

In der Vorstellung müssen Interpreten ein Werk aktualisieren. „dem Werk zu dienen” ist eine Art und Weise, jedwede Aneignung des Werkes durch den Akteur zu leugnen. Seine Aufgabe ist es nur, seine Gegenwart zeitverschoben wiederzugeben oder die ursprüngliche Wahrheit, welche es enthält, auszubreiten. Der Interpret hat schließlich noch die Aufgabe, dieses Werk durch das, was Derrida als „Eingrenzung der Vorstellung” (in L'écriture et la différence, Herausg. Seuil) kritisiert, „zu illustrieren”.

Doch diese Selbstvergessenheit kommt nicht von nirgendwo. Wenn der Rollenbegriff diese negative Bedeutung annimmt, dann weil er uns, während er uns den Scheinwerfern des Spektakels entreißt, gewissermaßen das Opfer des Menschlichen, welches mit seiner Hilfe stattfindet, entschleiert, und dies unter dem Deckmantel der sozialen Eignungskriterien. Wenn Sartre vom Kellner, der „den Kellner spielt, um seinen Rang zu verwirklichen” spricht, dann, um anzudeuten, dass dieser Kellner Haltungen, Gesten und einen Tonfall, welche seiner Vorstellung von seiner Rolle obliegen, annimmt. Die offenkundigen Zeichen dieser seiner Funktion stellen am Ende diese Kellneridentität dar, die er sich zu eigen macht und an welcher er festhalten muss, um nicht aus sich selbst herauszufallen. „Der Rollenspieler” spricht im Übrigen von seiner Rolle wie von einem Anderen, auf der Bühne wie im Leben : entweder die soziale Rolle, deren Modell er seiner Funktion zuschreibt - er gibt zu, dass er „ein Rädchen im Getriebe” ist, oder das doppelte Scheinbild wie von einer Idee, welche die Oberfläche seines Körpers durchdringen kann : diese Double-Haut, welche die Umrisse seiner Unterwerfung formt und in welcher er einen Charakter durchscheinen lassen muss.

Die Art von Schwierigkeit, auf welche der Akteur auf der Bühne trifft, gibt ihm einen Vorgeschmack des Kampfes, den man gegen das Fortbestehen eines „Lohnempfänger-”Lebens führen muss, wo jeder seine Anstrengungen zählt, um davon die Gegenleistung, das Gehalt zu erhalten. Findet die Spaltung zwischen mir und der Rolle, welche man mich spielen sehen will, nicht ihr Analog im Menschen, welcher durch die reihenweisen Spaltungen, welche seine Rollen ihm aufzwängen, vom Produkt seiner Arbeit abgeschnitten ist ?

Wenn man klar das Trugbild, welches das Leben ersetzt und von welchem das Theater sich legitim zum Spiegelbild macht, erkennt, ist es eine Eroberung, die Kunst dem Leben näher zu bringen. Die Forderung zu erheben, dass der Mensch auf der Bühne und im Leben Akt von Persönlichkeit macht, ist vielleicht der Nerv der politischen Theatralität. Damit unterscheidet sie sich insofern von der theatralen Darstellung, als sie den Akteur zu sich selbst bestimmt und ihn in sich selbst bleiben lässt : Er ist nicht mehr Darstellungsmittel, sondern das konkrete Subjekt, welches durch die Akte, welche es schafft, sich selbst als „Autor seiner Akte” auf der Theaterbühne, aber auch auf der Bühne des Lebens darstellt. Ich sehe hier gewissermaßen eine Definition der Poesie, der poetischen Tätigkeit, wenn sie auf „die Produktion seiner selbst” zielt. Folglich kann es die künstlerische Tätigkeit nicht vermeiden, durch die Praktiken, welche sie ins Werk setzt, und sicher nicht durch einfaches Wollen als Vorbedingung für die Wahl ihrer Gegenstände die Behandlung, welche sie dem Thema vorbehält, festzulegen.

Was die Skrupel der Puristen, der Kleinkrämer, der „Artisten”, welche vor der Verdrehung des Heiligen Geistes, der über den Zauberbüchern der Großen Texte schwebt, wie ein Heiliger Rühr-Mich-Nicht-An den Mund verziehen, betrifft, so sehen sie darin eine Art von profaner Operation, welche die Hochachtung, in welcher sie das Theater halten, wertlos macht. All jene, denen die Artenvermischung - das Umgießen von Flüssigkeiten - Schrecken macht, erinnern mich an die Art und Weise, wie die Tugend der alten Jungfern ganz nach dem verabscheuchten Koitus riecht.


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Den Körper gebrauchen

DEN KÖRPER GEBRAUCHEN
(Oder : die Périphériques kommen mit Schlaginstrumenten zu Demonstrationen)


Wenn das Politische Körperbewegungen und Rhythmik im Wort benutzt, dann beleidigt man die Orthodoxie der Sprache. Denn am Körper klebt der Skandal der Lust, welcher die Bedingung des Ernstes, welche die politische Rede legitimiert, verletzt. Ich beziehe mich hier nicht nur auf eine gewisse Starre in der Wortwahl - die Politikersprache, welche den Bürger zum Verzweifeln bringt, sondern auch auf die Herrschaft „eines wohltönenden Tones”, den man anerkennen muss.

Wir sind uns manchmal mit einem gewissen Personal „der bürgerlichen Ordnung” in die Haare geraten, denn dieses verdrängt hastig jede Sprachform, welche sich nicht dem Konformismus anpasst, insbesondere dem, was ich „Aussprachevorsicht” nennen möchte. Das Hereinbrechen der Schlaginstrumente und des Tanzes in den politischen Akt führt zu einer Art von intellektueller Unschicklichkeit, die überraschen kann.

Und die reaktionäre Einstellung, welche ihre Protestgroßmut bis in die Reihen der „Freunde der Jugend” ausstellt und welche uns die Erfahrung oftmals gelehrt hat, duldet keine Artenvermischung. Ihr Misstrauen erzeugt in ihnen eine derartige Verleugnung, dass sie mit ihren Formeln, welche mühsam die Schlagwortzunge schütteln, schon gestorben sind. Mehr noch : Wie kann man ihnen Glauben schenken, wenn sie am Mundstück ihrer Sprachrohre den Wandel ausschäumen, denn ihr Körper sagt das Gegenteil, wenn sie bei Sozialkämpfen auf alten Schlagern einherschwanken und wie Mumien in flauem Schritt marschieren, der die Jugend geradewegs zu ihrem politischen Begräbnis führt.

Nicht die Massen fürchten, dass man zu hoch die Stimme erhebt, sondern ihre Führer. Dieselben, welche es lieber hätten, wenn sie in Sozialräumen mit toten Winkeln, in denen Supermarktmusik herabträufelt, umherkriechen, um sich in Träumen vom Nichts zu wiegen. „Wer sind diese Leute, die zappeln und große Gesten machen ? Sie machen uns nicht glauben, dass man so Politik macht ?”, als ob die Geste diese Art von Gestikulation wäre, zu welcher sich der Körper hinreißen lässt, ein Parasit der Sprache. Was mich betrifft, so halte ich mich bei dem Wort Geste an seinen lateinischen Ursprung mit dem Verb gerere, welches schaffen bedeutet. Es stellt sich somit die Frage, zu wissen : Was machen sie, wenn sie Gesten machen ? Geht es hier nicht eher darum, sich von einer gewissen Art, Politik zu machen, loszumachen, da diese sonst immer in denselben Haltungen stecken bleibt ?

Wenn Foucault von der Macht behauptet, dass sie zunächst eine Macht über den Körper des Anderen ist, dann muss man sich über die Dressur des Körpers, welche immer der des Geistes vorangeht und sie ankündigt, Fragen stellen. Ich kann mir schlecht eine andere Art, Politik zu machen, vorstellen, als eine, die einen Willen vorantreibt, um die Ränge, welche uns eine Anzahl von „normalisierenden” Stellungen zuschreiben, zu brechen und dem Denken seinen Ausdrucksspielraum zu geben. Die „bleiärschige” Haltung der Experten, gemäß der Formel Nietzsches, kann uns kaum dabei behilflich sein, uns aus festsitzenden Gedanken zu erheben. Daher kommt die Alternative, eine „Philosophie in Akten” für aufrechte Philosophen zu entwickeln, zu deren Aufschwung wir unsere ganze Energie aufwenden. Doch dies ist ein anderes Beginnen. (Siehe hierzu den Artikel Vorspiel einer Philosophie in Akten für aufrechte Philosophen)

Yovan Gilles


Ausgegrenzt, verstoßen, versklavt
 
 

Man kennt den zynischen Scherz von Voltaire : Man muss die Kanaille (das Volk) um jeden Preis in der Unwissenheit halten, wenn man nicht will, dass sie die Macht an sich reißt und die Privilegien derer bedroht, die das Wissen besitzen. Die Religion erschien ihm somit als das sicherste Mittel zur politischen Aussperrung einer ihrer schlechten Instinkte trunkenen Volksmasse. Welcher moderne Glaube könnte heute, wo die Religion diese Rolle nicht mehr erfüllen kann, die Masse der Ausgegrenzten in ihren Grenzen halten und sie von ihrer politischen Rolle, d.h. von der Erkenntnis der eigenlichen Gründe ihrer Ausgrenzung, abschneiden ? Antwort : Die Eingliederung als einziger Heilsweg.

 

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Les périphériques vous parlent, zuletzt bearbeitet am 3. Juli 03 von TMTM
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Wegen seiner realistischen Beschreibung der „heißen Vorstädte” war der Film La Haine jüngst Objekt von sterilen Kritiken, die Frage : „Ist das wahr oder nicht ? ” beginnt eine Debatte, welche keine andere Bedeutung hat, als die Medienspekulation zu nähren und außerdem Vorstädte und Jugendkriminalität in einen „Zustand” zu pressen. Ein Film wie Natural Born Killers von Oliver Stone zeigt, wie die Idee eines „Bezugspunktes Wirklichkeit”, dessen Bild ein skizzenhaftes Abbild wäre, wirkungslos ist, denn unser Blick auf die Wirklichkeit ist bereits durch das Bild mediatisiert (die Unmöglichkeit z.B., zwischen der kriminellen Handlung und dem Medienbild, das sie darstellt, zu unterscheiden).
 


„Für mich haben die Darsteller keine aus einem Text entstandenen Persönlichkeiten zum Ausdruck zu bringen, sie haben zunächst vollständig in einer Situation (einer Geschichte oder Anderem), zu welcher der Text verpflichtet, sie selbst zu sein. Es handelt sich somit für den Akteur nicht darum, auf der Bühne eine Persönlichkeit aus der Geschichte zu interpretieren, sondern darum, eine spezifische Verhaltensart (Wesens- und Handelnsart), welche er mit dem Text an den Tag legen kann, zu zeigen. Hierin unterscheidet sich der Akteur grundlegend vom Komödianten, welcher immer zum Ziel hat, eine Persönlichkeit zu interpretieren, eine Rolle zu erfüllen. ”
(« Pour moi les acteurs n'ont pas à exprimer des personnages issus d'un texte, ils ont d'abord pleinement à être eux-mêmes dans une circonstance [une histoire ou autre] à laquelle le texte engage. Il ne s'agit donc pas pour l'acteur d'interpréter sur la scène un personnage d'histoire mais de manifester un type spécifique de comportement [mode d'être et de faire] qu'il peut produire avec ce texte. En cela l'acteur se différencie profondément du comédien, lequel a toujours pour objectif d'interpréter un personnage, de tenir un rôle. » Marc'O, Theatralität und Musik, Zeitschrift L'impossible, et pourtant)
 


Von Gilles Costaz in L'économie culturelle (17. Oktober 1994) und Politis (2. Februar 1995) und von Jean-Pierre Thibaudat in Libération (6. Februar 1995) benutzter Begriff.
 


Die aktuelle Mode der „Rollenspiele” treibt nach jener des Gummiseilsprunges das Phänomen von Identifizierung mit einer Figur zu seiner Vollendung ; sie entspricht der Idee eines Scheinausbruches zum Gebrauch der Jugend auf der Suche nach Nervenkitzel. Vor Kurzem erstach ein von diesem Spiel besessener junger Mann seinen Lehrer mitten im Unterricht, weil die Figur, welche er verkörperte, ihm ein Gefühl von Unverletzlichkeit verlieh. Dieses Geschehnis zeigt auf, wie sehr das Identifizierungsphänomen das Individuum Verhaltensmustern unterwirft, die zu Aufforderungen zum Mord werden. Das Schlimmste ist die Tatsache, dass die Rollenspiele bei jenen, die ihnen frönen, die Illusion erzeugen, dass sie Einbildungskraft besäßen oder Kreativität entwickelten.
Als einzigen Kommentar wollen wir an den Satz von Mishima erinnern, der versichert, dass man nicht Erinnerung mit Einbildungskraft verwechseln darf.
 


Individuen werden häufig für vorprogrammierte Berufe angeworben. Die neuen Universitäten in der Art der Fac Pasqua werden z.B. sehr schnell von Unternehmen aufgestellte Berufsprofile aushandeln, um eine Geldauswahl treffen zu können. Man müsste überprüfen, wie das Casting-System die Krise der Arbeitswelt nährt.