Les périphériques vous parlent N° 2
HERBST 1994
S. 28-30
deutsch
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letztes Kapitel des vorangehenden Textes in Nr. 2 Die Zusammenhänge der Krise, 9. Kapitel : Lebensziele, Bedürfnisse und Wünsche
 Argumente und Vorschläge 

Die lange Frist und die Metapher der Suche

Im Rahmen der kurzen Frist „die Krise zu verwalten” verlangt nichts Anderes, als die Dinge so zu lassen, wie sie sind. Was demgegenüber eine Zivilisation und eine Kultur begründet, ist die lange Frist, die Entscheidung, der Zukunft ein Projekt zu geben. Die lange Frist selbst verlangt eine Suche. Welcher Art ist diese Suche ? Dies entschleiert uns die Metapher der „Suche nach dem Gral”.

Wir haben gesehen, dass wir aus dem Ausdruck „die Jugend ist ihre Entwicklung” ein fundamentales Ziel machen müssen, eine politische Forderung, den Motor von „Objektiv Jugend” selbst. In diesem Zusammenhang von „fundamental” zu sprechen, bedarf einer Erklärung.

Wenn wir für die Jugend „eine Gegenwart, die eine Zukunft hat” als Ziel darstellen, heißt das, dass wir behaupten, dass die kurze Frist ihr kein Bestehen geben kann. Die kurze Frist bedeutet im Grunde nur, „die Dinge so zu lassen, wie sie sind”. Die Dinge, wie sie sind, das ist etwas anderes als „die Realität der Dinge”, die als eine Realität erscheint, der man sich eben unterwerfen muss. Die Realität ist bestenfalls die Idee, die man sich von ihr machen kann. Wir fügen hinzu, dass die Idee, die die Epoche ihr gibt, nicht diejenige ist, die wir uns von ihr machen. Die Wirklichkeit ist in Bewegung, und wir wollen sie in ihrer Bewegung selbst erfassen und begleiten, denn nur in der Bewegung kann Jeder selbst reell und in Bewegung sein.


- Welches ist das beste Mittel, die Jugend zu zerstören ?
 
- Sie auf ihre kurze Frist zu reduzieren.
 

Die Perspektive der kurzen Frist ist die Realität, die Tag für Tag eine „Notwendigkeit” aufzwingt, die Jedem nur noch übrig lässt, sich den Umständen zu beugen, ein resigniertes „Objekt der Umstände” zu sein, und dessen Leben nur noch ein Ziel hat : Jeden Tag auf den nächsten Tag zu warten.

Die Perspektiven, die sich aus der langen Frist heraus erarbeiten, sind ganz andere. Zunächst gründen sie sich auf eine Entscheidung, eine Lebenswahl. Die Entscheidung, sein Leben gemäß den Umständen zu machen, die nicht mehr als „Schicksal” angesehen werden, denen niemand entrinnen kann, sondern als Gelegenheiten, seinen Weg zu machen. Was die lange Frist begründet, ist die Entscheidung, sich ein Projekt zu geben.

Man könnte vorgeben, dass jede Kultur und jede Zivilisation die Geschichte eines Grundprojektes ist, das sich realisiert. Wir müssen hier jedoch diesem Vorschlag Nuancen setzen und hinzufügen, dass sich jede Zivilisation nicht so sehr durch die Verwirklichung eines Langzeitprojektes realisiert, das im Voraus definiert worden ist, sondern eher durch ihren Weg (die Geschichte), den sie durchschreitet, um dieses Projekt gut oder schlecht zu realisieren. Eine Zivilisation wäre demnach die Summe aller Aktivitäten, die von einem Projekt aus ausgeführt wurden, die Entwicklung eines Projektes. Ob die anfänglichen Ziele erreicht wurden oder nicht, die Antwort auf diese Frage kann man der Spekulation der Historiker überlassen.

Was wir hier festhalten wollen, ist die Tatsache, dass sich jede Zivilisation oder Kultur einerseits von einer Vision, einem Langzeitprojekt aus aufbaut (dies ist die Definition der langen Frist selbst), und dass andererseits jedes politische Programm, das die Probleme kurzfristig regeln will, seine Autoren implizit dazu führt, die Zukunftsperspektiven zu verschleiern und somit die Gesellschaft, die sich dazu hingehen lässt, zum Niedergang verurteilt.

Wenn jemand seinen Weg in die kleinsten Teile aufspaltet - ohne die Schlaglöcher zu zählen - kommt er niemals im nächsten Dorfe an. Unter dieser Bedingung ist das Leben zu kurz, um diese Reise zu machen. Aber der Fehler befindet sich hier im Worte „jemand”. Denn sobald man den Weg in Stücke aufteilt, teilt man auch denjenigen auf, der sich auf diesen Weg begibt. Und wenn man die Einheit des Lebens aufgibt, gibt man damit auch seine Kürze auf. Gleich wie kurz es ist. Das macht nichts, denn der Mensch, der im Dorfe ankommt, ist nicht mehr der, der am Beginn des Weges stand.
(Walter Benjamin, Essais über Bertolt Brecht)
 
Dies ist eine „Rück-Übersetzung”. Der deutsche Originaltext stand mir hier leider nicht zur Verfügung. (Anm. d. Übers.)

Wir wollen jetzt die Problematik der langen Frist aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Zunächst behaupten wir, dass die lange Frist von sich aus eine Suche erfordert, und in der Folge, dass die Metapher der Suche nach dem Gral uns hier behilflich zu sein scheint, um dies zu erläutern.

Dem Wort Suche geben wir eine der nicht-religiösen Bedeutungen, die die Metapher der „Suche nach dem Gral” in der Form der impliziten Frage : „Was enthält der Gral ?” mit sich bringt, und anschließend mit der Antwort : „Das Blut des Lebens”. Der Gral drückt durch diese Frage und Antwort die Idee aus, das Leben im Rahmen des Lebendigen, des Unmöglichen zurückzuhalten. Man muss den Gral, „einen Behälter, der seinen Inhalt sucht,” suchen, finden und am Ende wohl erfinden. „Das Objekt dieser Suche” kann man nur am Ende seiner Suche erfinden. Somit stellt sich die menschliche Existenz als die lange Suche eines Grundbedürfnisses dar, das niemand benennen kann, außer, indem er es an jeder Etappe seines Daseins sucht und findet.

Aber die lange Suche der Ritter der Artusrunde erinnert uns ständig daran, dass jeder Fund nur ein neues Grundbedürfnis zu Tage bringt ; einen Mangel, der ständig an einen anderen Raum verweist, wo er eine neue Form annimmt, eine neue Frage stellt, eine neue Hoffnung und einen neuen Anfang begründet. Eine ewige Suche, Suche nach der ewigen Jugend, in der die Menschen, die sie unternehmen, sich zweifellos aufreiben, aber sich dadurch auch ein Ziel, eine Entwicklung, ein Leben geben. Und genau das ist die Jugend.

Die Metapher der Suche nach dem Gral stellt mit all ihren Episoden die Tragik der „Begeisterung für das Leben” in ihrer epischen Form dar. Wir halten uns nicht weiter an dieser „Suche” auf und sagen nur abschließend, dass diese Metapher offen (in dem Sinne, dass sie einen Weg eröffnet) jede Gründung einer Kultur oder einer Zivilisation symbolisiert und somit ein nützliches Modell ist, das jedes Projekt, welches auf eine Entwicklung zielt, begleiten kann.

Im Rahmen der Zivilisation selbst und der Kultur, die ihr Ausdruck ist, kann die Aktivität des Menschen „Geschichte machen”, indem sie die Kriterien erzeugt, die ihre Entwicklung sicherstellt. Folglich lädt das Ziel „eine Gegenwart, die eine Zukunft hat” die Gesellschaft im Allgemeinen, die Verantwortlichen und Institutionen dazu ein, die Langzeitperspektiven in die Aktivitäten der Gegenwart mit einzubeziehen. Die Politik der kurzen Frist, des „wir retten was wir können von den Möbeln, später sehen wir weiter” nährt die Ausgrenzung.

Wir müssen uns gegenüber jedem Vorschlag und jeder Entscheidung, in einem Wort, gegenüber jeder Politik fragen, welches ihre Zukunft ist. Wenn wir es genau betrachten, haben die Punks mit dem Ruf ‘‘No future’’ nur vorhergesagt, dass die ganze Yuppie-Aktivität - der Kult des Geldes - der liberalen achtziger Jahre, diese Hektik, Geld zu verdienen, um Geld zu verdienen oder sein Vergnügen im Verbrauch von „Idealprodukten” zu suchen, diese „Krampfaktivitäten” keine Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen.

Wir stellen nochmals klar, dass sich eine Kultur langfristig aufbaut, eine Zivilisation sich langfristig konstruiert, eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung langfristig gedeiht und Geschichte langfristig gemacht wird.


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